Angeline Bauer

Wolfstraum

Als sie wieder erwachte, war es dunkel. Der Wind pfiff um die Hütte, riss Äste von den Bäumen, die knackten, als sie auf den Waldboden fielen.

   Jennerwein saß auf der Bank. Er hatte ein Feuer angezündet. Bei jedem Luftzug flackerten die Flammen, neigten sich zur Seite und richteten sich wieder auf. „Morgen“, sagte er, als Annelie sich zu ihm setzte, „schieß ich uns einen Bock.“

   Irgendwann ging sie hinaus, um Wasser zu lassen und sich zu waschen. Der Bach war nicht weit, ein Rinnsal, das gluckernd über Steine sprang, sich in einer Mulde fing und daraus überlief, wie Most, den man in eine bereits gefüllte Kanne goss. Über ihr, an einem blanken Stück Himmel, stand der volle Mond. Wolkenfetzen schienen ihn zu streifen, um dann nach Osten hin weiterzuziehen.

   Annelie hockte sich an den Rand der Mulde, schob den Rock hoch und wusch sich. Es tat weh zwischen ihren Beinen, und auch ihr Herz schmerzte, denn die Gedanken an Lenz ließen sich nicht vertreiben. Noch nie hatte er alleine geschlafen, noch nie war sie länger als einen Tag von ihm fort gewesen. Bestimmt weinte er jetzt und suchte überall nach seinem Annele.

   Sie wollte gerade aufstehen, als sie den Schatten hinter sich wahrnahm. Ein Mann, ein Gewehr.

   „Komm!“, sagte er. Es war Jennerwein. „Du solltest nachts bei der Hütte bleiben. „Man weiß nie, was sich hier alles herumtreibt.“

 

Sechs Tage hausten sie nun schon hier oben. Einen Hasen hatte Jennerwein am zweiten Tag erlegt, am fünften einen Frischling. Jetzt war es wieder Nacht, und sie aßen über dem offenen Feuer gebratenes Fleisch.

   Die Wunde war endlich verheilt, Grind bedeckte sie.

   Annelie kannte inzwischen jede Wimper Jennerweins, jeden Sprenkel in seiner Iris, jedes kleine Mal an seinem Körper. Sie hatte auch keine Angst mehr vor seinem Geschlecht. Wenn es wuchs und sich ihr entgegenreckte, umfasste sie es und wärmte ihre klammen Hände daran. Wenn es in sie eindrang, blies sie den Atem aus und gab sich ihm hin. Eine Woge, die sie mit sich fortriss, hatte sie noch nicht gespürt, aber ein Begehren wuchs in ihr, dass sie sich diesem Mann öffnen wollte, ganz und gar. Ein Gefühl, das in ihrem Unterleib für Unruhe sorgte, sich von innen her ausbreitete und sie mit Leben und einer Liebe erfüllte, die anders war als die zu Lenz oder ihrer Mutter. Eine Liebe voller Hoffen und Bangen und Sehnsucht, die sich einstellte, kaum dass Girgl den Kobel verlassen hatte und zwischen den Bäumen verschwunden war, um Wasser vom Bach zu holen oder zu jagen.

   Oft saßen sie da und erzählten sich etwas, und Girgl sang – er hatte eine wunderschöne Stimme. „Bin ich droben beim Hennererwirt“, sagte er, „dann lass ich mir die Zither von ihm geben, und ich spiel auf. Dann singen wir gemeinsam, oder die anderen tanzen.“

   „Singen kann ich nur ein paar Kinderlieder, die mir die Mutter beigebracht hat“, entgegnete Annelie, „und Tanzen kann ich gar nicht.“

   Er brachte es ihr bei. Draußen, vor der Hütte, auf dem Waldboden. Den Ländler, die Polka, den Zwiefachen. Und sie strauchelten und fielen und lachten und tanzten wieder weiter nach den Liedern, die Girgl sang.

   So verging die Zeit, und Annelie war glücklich. Nie zuvor war einer nur für sie da gewesen. Nie zuvor hatte sie so unbekümmert und ohne zu arbeiten in den Tag hineingelebt. Sie dachte an Magdalena, an die Blicke, die zwischen ihr und Ludwig hin- und hergegangen waren. Jetzt verstand sie!

 

 

Angeline Bauer

Die Niemalsbraut

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17. Februar anno 1869

Schon seit vier Stunden lag Marianne Klamm, die Niedermoosbacher-Bäuerin, in den Wehen, und ihre Schmerzensschreie hallten durchs Haus. Die Kinder saßen auf der Holztreppe, die vom Flur hinauf in den Oberstock führte; Johanna, die Älteste, zuunterst und ihre Schwestern hinter ihr aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Johanna war neun Jahre alt, Vroni und Reni, die Zwillinge, sieben, dann folgten Antonia mit drei Jahren und Therese mit zwei.

   Ob es ein Glück oder ein Unglück war, dass jetzt noch einmal ein Kind kam, musste sich erst noch erweisen. Die Mutter hatte gesagt, es würde ein Glück sein, wenn es ein Bub wäre, aber ein Unglück, wenn sie zu ihren fünf Mädchen noch ein sechstes bekäme.

   Einen Buben hatte es auch einmal auf dem Niedermoosbacher-Hof gegeben, aber der war mit drei Jahren an Diphtherie gestorben. Hans hatte er geheißen, so wie sein Vater, und war eineinhalb Jahre nach den Zwillingen zur Welt gekommen. Am Abend nach seiner Beerdigung hatte Johanna gehört, wie die Mutter zum Vater gesagt hatte: „Wenn's doch nur die Vroni oder die Reni erwischt hätte, aber ausgerechnet den Buben!“ Da war sie froh gewesen, dass die Mutter nicht sie dreingegeben hätte.

   Als endlich die Hebamme kam und der Bauer ihr die Haustür öffnete, wehte ein kleiner Haufen Schnee mit ihr herein und blieb hinter dem Trittbrett liegen. Den Blick auf den weißen Fleck gerichtet, zog sich Johanna das wollene Tuch noch enger um die Schultern, gerade so, als könne sie damit die innere Kälte besiegen, die sie bei jedem Schrei ihrer Mutter erschauern ließ. Sie hatte geglaubt, wenn die Hebamme endlich da sein würde, ginge es der Mutter wieder besser, und sie würde aufhören, so schrecklich zu schreien. Aber sie schrie nur immer noch lauter, und die Schwestern weinten, und Johanna selbst betete zum lieben Herrgott, dass die Mutter den Buben endlich aus ihrem Leib herauspressen konnte, und dass er ihr danach kein neues Kind mehr hineinlegen sollte.

   Hans Klamm trat plötzlich vor Johanna hin. An seinen Augen sah sie, dass er schon die ganze Maßflasche von dem starken Bier getrunken, das ihm der Unterknecht vom Postwirt geholte hatte. Er packte sie am Arm, zog sie hoch und schubste sie Richtung Küche. „Hab dir doch gesagt, du sollst der Hebamme heißes Wasser bringen.“

   Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie wollte nicht hinauf, hatte Angst, weil die Mutter so schrecklich schrie. Doch der Vater kannte kein Erbarmen. „Du gehst jetzt da rauf - ich kann nicht, ein Mann hat bei solchen Sachen nichts zu suchen.“

   Johanna rannte in die Küche, drückte die Tür hinter sich zu und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. Kurz sah sie sich um, als wäre sie hier fremd. Links von ihr befand sich der Rauchfang, ein Stück weiter hinten der gemauerte Herd, auf dem offenes Feuer loderte. Darüber hing an einem Schwenkbalken, der aussah wie ein Galgen, der Kessel mit heißem Wasser. Draußen vor dem Fenster war stockfinstere Nacht, und auch herinnen war es nicht viel heller. Die Flammen auf dem Herd flackerten und ließen Schatten an den rußigen Wänden tanzen, sonst brannte kein Licht.

   Das Mädchen nahm die Petroleumlampe vom Regal, um sie mit einem Holzspan anzuzünden. Sie stellte die große irdene Schüssel, in der sonst immer die Kartoffeln auf den Tisch kamen, auf den Rand des Herdes, schöpfte mit einer Kelle heißes Wasser hinein, ging dann zur Tür, um sie zu öffnen.

   Ihre Schwestern saßen noch wie zuvor auf der Treppe. Die Zwillinge starrten dumpf vor sich hin, die zwei Kleinen heulten zum Erbarmen.

   Der Vater stand weiter vorne bei der Tür, dort wo ein Wandkasten in die Mauer eingelassen war. „Was ist, was glotzt du so?“, fuhr er seine Älteste an.

   Schnell ging sie zurück in die Küche, nahm die Schüssel und trat damit auf den Flur. Sie war schwer. Johanna hatte gehofft, der Vater würde sie ihr wenigstens hinauftragen, aber er rührte sich nicht vom Fleck.

   Das Mädchen schleppte die Schüssel an den Schwestern vorbei, dabei schwappte das Wasser über, hinterließ dunkle, nasse Spuren auf ihrem Leiberl und dem Rock. Droben setzte sie die Schüssel auf der Truhe ab, die neben der Kammer stand, und öffnete zaghaft die Tür.

   Im selben Moment entfuhr der Mutter ein schrecklicher, langgezogener, nimmer endend wollender Schrei, und das Mädchen wurde ganz blass und presste sich beide Handballen auf die Ohren.

   Die Hebamme trat vom Bett zurück. Johanna starrte auf die Hände der Frau, die ein blutverschmiertes Etwas hochhielten, sah zu, wie sie es an den Füßen nahm, kopfüber hängen ließ und ihm dann auf den Hintern schlug, dass es schrie.

   Das Kind tat ihr nicht leid. Sie fand es nur gerecht, dass es gleich als Erstes eine Tracht Prügel bekam, weil es die Mutter so gequält hatte, und auch weil sie sah, dass es wieder ein Mädchen war und deshalb ein Unglück für sie alle.

   „Ich bring' das Wasser“, sagte sie laut.

   Die Hebamme nickte. „Wird auch Zeit. Stell es da hin, auf die Truhe. Dann schüttest du so viel von dem kalten Wasser aus dem Eimer dazu, dass es handwarm ist.“

   Das Mädchen tat wie ihm befohlen, sah dabei zur Mutter hinüber, die wie tot im Bett lag. Der Mund stand ihr offen, das Haar klebte ihr auf der Stirn, und weiter drunten war alles vom Blut durchtränkt - als hätte man im Bett eine Sau geschlachtet!

   Die Hebamme durchtrennte die Nabelschnur, tauchte dann ihren Ellenbogen ins Wasser, nickte, legte das Kind hinein, das immer noch schrie, und wandte sich wieder an Johanna. „Hol mir noch eine zweite Schüssel mit heißem Wasser, und bring auch gleich Tücher und Windeln mit.“

   Johanna brachte zuerst die Tücher. Als sie mit dem heißen Wasser kam, hatte die Hebamme das Kind bereits gewickelt und geschnürt. Es lag in der Wiege neben dem Bett und wimmerte leise. Sie nahm ihr die Schüssel aus der Hand, deutete dann mit dem Kopf auf die Kartoffelschüssel, die nun auf dem Boden stand und voll war mit dem Blut der Mutter. „Das trägst du hinunter und gießt es im Häusl aus. Und schick mir den Vater herauf.“

   Das Mädchen hob angewidert die Schüssel auf. Das Blut roch nicht frisch und angenehm wie das der Schweine und Kühe beim Schlachten, sondern es stank ekelerregend. Im Hinuntergehen kämpfte sie gegen die aufsteigende Übelkeit an, war froh, als sie hinauskam an die kalte, frische Luft.

Das Häusl stand links ums Eck beim Stall. Den Weg dorthin hatte der Knecht freigeschaufelt. Rechts und links war eine Schneewand, so hoch wie Johanna selbst, darüber der düstere Himmel. Kein Stern war zu sehen in dieser Nacht, auch nichts vom Mond - aber im Wald hinter dem Hof schrie eine Eule.

   Das Mädchen schob die Tür vom Häusl mit dem Ellenbogen auf, zwängte sich mit der Schüssel hinein und goss das Blut der Mutter über dem Lokus aus. Dabei war es ihr, als hätte sie die Mutter selbst in die Grube gekippt - nie wieder würde sie auf den Lokus gehen können, ohne zu denken, dass dort drunten, bei all dem Kot und Urin, ein bisschen auch von der Mutter lag.

   Zurück im Haus suchte sie nach dem Vater. Er saß in der Stube beim Kachelofen, die Schnapsflasche aus gebranntem Ton stand neben ihm.

   „Vater“, sagte nun die Tochter, „ich soll von der Hebamme ausrichten, dass das Kind da ist, und du sollst kommen und es anschauen.“

   Er hob den Kopf, blickte sie wie aus weiter Ferne an: „Ist es ein Bub?“, fragte er.

   Sie ließ ihr Kinn auf die Brust sinken. „Nein, Vater, es ist wieder bloß ein Mädchen.“

   „Dann brauch ich es auch nicht zu sehen.“

   Die Älteste brachte ihre Schwestern zu Bett, die erschöpft in die Kissen sanken. Johanna betete sie in den Schlaf, legte sich dann selbst hin und schloss die Augen. Eine Weile hörte sie in Gedanken die Mutter noch schreien, sah das Kind vor sich, wie die Hebamme ihm auf den Hintern schlug, und schlief endlich ein.

   Derweilen wusch die Hebamme die Wöchnerin, bettete sie in frische Laken um und legte ihr das Kind an. Bekümmert sah sie zu, wie es sich an der Mutterbrust abmühte, die kaum etwas hergab.

   Mit einem Seufzen auf den Lippen ging sie hinunter in die Stube. Noch immer saß der Niedermoosbacher auf der Bank vor dem Kachelofen und starrte vor sich hin. Seine blauen Augen wirkten vom Alkohol dumpf und trübe, das dunkelblonde Haar hing ihm wirr in die Stirn.

   „Du musst dir eine Magd suchen“, sagte die Hebamme, „und am besten gleich eine, die dir auch das Kind stillen kann, denn deine Frau wird sterben.“

 

In den frühen Morgenstunden des 18. Februar 1869 kam der Doktor mit seinem Schlitten vorgefahren. Er sah nach der Wöchnerin, sagte dann zum Bauern: „Deine Frau wird den morgigen Tag nicht überleben. Du brauchst eine Magd, und ich wüsst dir auch schon eine. Sie ist neunzehn Jahre alt und stammt aus Rosenheim. Vor vier Tagen hat sie bei mir ihr uneheliches Kind geboren, das sie zur Adoption weggeben musste. Zu Hause will man sie nicht mehr, deshalb sucht sie eine Anstellung, und da käme sie dir doch gerade recht.“

   Hans Klamm hatte ihm reglos zugehört. Nun endlich hob er den Kopf, sah den Doktor an und sagte: „Wenn die Marianne tot ist, dann kann sie meinetwegen kommen, vorher nicht.“

 

Am nächsten Morgen, bevor die älteren zur Schule gingen, wurden die Kinder allesamt zur Mutter geschickt, um sich von ihr zu verabschieden. Das Kind lag in der Wiege, die Mutter saß aufgerichtet in den Kissen und blickte ihre Töchter aus matten Augen an. Zuerst zeichnete sie den zwei Kleinen ein Kreuz auf die Stirn, sprach dabei einen Segen, dann den Zwillingen. Zuletzt streckte sie ihre Arme nach ihrer Ältesten aus und zog sie an sich.

   Johanna war die Einzige, die sie je geliebt hat. Ihre anderen Töchter waren ihr gleichgültig geblieben, so wie ihr Mann ihr Herz nie hatte erweichen können. Es gehörte einem anderen. Markus Lohrbacher hieß er und war ein Schreinergeselle, der aus Wasserburg stammte und auf der Walz in Grassau hängen geblieben war. Aber ein Zugereister, ein Fremder, und auch noch einer, der kein Landwirt war, so einer kam als Mann für eine Bauerntochter nicht infrage. Ihr Vater hatte ihr diese Heirat verboten und stattdessen den Hans Klamm für sie ausgewählt. Sie hatte gehorcht, aber nach der Hochzeitsnacht ließ sie Ihren Mann nicht mehr an sich heran, bis sie sicher war, dass sie kein Kind von ihm im Leibe trug. Dann hatte sie sich eines von Markus machen lassen. Das war die Johanna. Die Johanna war ihr Liebespfand! Doch das wusste außer ihr niemand, und sie würde es auch auf dem Totenbett niemandem sagen - Gott alleine blieb ihr Zeuge und verzieh ihr oder nicht.

   Nun segnete sie auch die Johanna. „Du bist die Älteste, du musst aufpassen auf deine Schwestern!“ Sie küsste sie.

   Sonst gab sie niemandem einen Kuss, nicht einmal ihrem Mann.

   Bald danach kam der Pfarrer, um ihr die letzte Ölung zu geben. Hans Klamm und seine alte Godin Leni, die beiden Knechte und Barbara Fleidl, die Obermoosbacher-Bäuerin, die ihre nächste Nachbarin war, standen dabei und beteten für sie. Blass und ausgemergelt lag Marianne in den Kissen, und die Schmerzen im Unterleib trieben ihr den Schweiß auf die Stirn.

   Als der Pfarrer gehen wollte, hielt sie ihn am Ärmel fest. „Es gibt noch etwas zu sagen.“ Sie wandte sich an ihren Mann. „Es ist mein letzter Wille, dass Johanna zuerst heiratet, erst nach ihr die anderen, immer der Reihe nach. Und die Älteste bekommt den Hof, und keine von meinen Töchtern soll sich je als Magd verdingen müssen. So will ich's, und so musst du's machen, Hans, das musst du mir hier unter Zeugen und vor Gott versprechen.“

   „Ja aber ...“ Die Leni sah von der Sterbenden zu ihrem Patensohn, dann wieder auf Marianne. „Und wenn die Johanna nicht heiraten will? Dürfen dann die anderen auch nicht?“

   „Sie wird schon wollen“, sagte die Mutter. „Ihr versprecht es mir, bei Gott und bei meiner Seel: Geheiratet wird der Reihe nach, keine muss sich je als Magd verdingen, und die Älteste bekommt den Hof!“

   Was sollte ihr Mann tun? Einer Sterbenden den letzten Willen abschlagen, das konnte nicht sein. Wenn auch keiner verstand, was die Marianne dazu trieb, so etwas zu verlangen, sie gaben ihr das Versprechen, damit sie in Frieden gehen konnte.

   Als Johanna und die Zwillingsschwestern Vroni und Reni am Nachmittag von der Schule nach Hause gingen, kam ihnen bei der Eiche der Vater mit dem Schlitten entgegen. Er blieb nicht stehen und sagte nichts, und so erfuhren sie erst zu Hause von der alten Leni, dass die Mutter gestorben war.

   Die Obermoosbacherin und die Leni wuschen die Tote, zogen ihr ein Totenhemd über und bahrten sie auf. Das Neugeborene in seiner Wiege hatte man fürs Erste in die Gutkammer gestellt und, weil es vor lauter Hunger so erbärmlich schrie, mit etwas verdünnter Ziegenmilch gefüttert.

   Es war bereits dunkel, als der Vater mit der Amme aus Grassau zurückkam. Sie roch nach Seife, wie die Frau Doktor, und an ihrem Gewand sah man, dass sie aus besseren Kreisen stammte. Sie hatte gelbbraune Augen wie ein Hund und trug ihren blonden Zopf zu einer Krone um den Kopf gewunden. Ihre Schultern waren schmächtig und ihre Hände viel zu zart für die schwere Arbeit auf einem Hof. Hätte der Niedermoosbacher vorher gewusst, was für eine feine Dame diese Thekla Rosner war, er hätte dem Doktor nicht zugesagt. Aber jetzt war sie schon einmal hier, also sollte sie auch bleiben.

   Er brachte sie gleich in die Gutkammer. Dort beugte sie sich über die Wiege und holte das schreiende Kind heraus. „Wie heißt es denn?“, fragte sie.

   „Es hat keinen Namen. Kannst ihm selbst einen geben.“

   „Dann soll es Karoline heißen.“ Sie knöpfte ihr Mieder auf und legte das Kind an die Brust. Dabei lächelte sie wie ein Engel, und der Niedermoosbacher schämte sich plötzlich, ohne zu wissen warum und wofür.

   Er ging und holte seine Töchter. Der Größe nach reihten sie sich vor der fremden Frau auf und starrten sie an. Das Kind war an ihrer Brust eingeschlafen. Sie legte es in die Wiege zurück, knöpfte ihr Mieder zu und streckte ihre Hand nach der Ältesten aus. Doch das Mädchen wich zurück, als könnte es sich daran verbrennen.

   Später, als Johanna ihre Schwestern zu Bett brachte, sagte sie ihnen, dass das Kind daran schuld sei, dass die Mutter sterben musste, und dass sie es hassen sollten, bis an ihr Lebensende.

   Zwei Tage später, in der Nacht zum 21. Februar, nahm Johanna das schlafende Kind aus der Wiege und legten es oben ganz vorne an den Rand der Treppe. Sie hofften, es würde sich durch Strampeln selbst hinunterstürzen und wäre dann tot. Aber das Kind schrie, die Amme holte es und legte es zurück in die Wiege und schloss fortan nachts die Kammertür ab.

 

 

 

Der Maler und das Mädchen

Das Buch:

Regensburg im Jahre 1546

Eine schöne junge Frau, ein exzentrischer Maler, ein Mädchen, das den Kaiser verführt und von einem Mörder verfolgt wird - und all das spielt sich ab vor der Kulisse einer mittelalterlichen Stadt, die heute zum Weltkulturerbe zählt.

 

Leseprobe

   Am Fuße des Turmes, der zum Anwesen des Händlers und Stadtkämmerers Wolfgang Winkler gehörte, wurde die Tür zur Waschküche geöffnet. Ein Falke, der hoch droben auf den Zinnen saß, flog auf und in Richtung Dom davon. Einen Moment war es mucksmäuschenstill, dann huschten zwei Frauen, mit langen Umhängen und weißen Hauben bekleidet, über den Hof und bogen nach links in die Bachgasse ein.

   Niemand beachtete sie. Es war nichts Auffälliges an ihnen, außer vielleicht, dass sie nicht miteinander redeten und fortwährend auf den Boden starrten.

   Ein Hündchen folgte ihnen, in der Ferne klingelte und schrie ein Bierkutscher: "Der Bierkutscher ist da, kommt her Leute und kauft Bier! - Der Bierkutscher ist da!"

   Am Eckhaus zur Gesandtenstraße, dem Lerchenfelder Hof, blieben sie kurz stehen und sahen sich an, so als überlegten sie, ob sie ihren Weg fortsetzen oder doch lieber umkehren sollten. Aber was einmal angefangen ist, muss auch zu Ende geführt werden! Also gingen sie weiter. Am Judensteg vorbei, geradeaus in die obere Bachgasse, von da in die Obermünster Gasse, ins Simader Gässchen, bis sie sich schließlich an der Ecke zum Henkergässel in eine Toreinfahrt drängten.

   Den Umweg hatten sie genommen, um möglichst wenig Leuten zu begegnen. Trotzdem war ihnen gerade ein paar Schritte vor dem Henkergässel Matthias Vogel über den Weg gelaufen. Er arbeitete als Knecht beim Blaufärber Schöneder, der mit einer Base der Frau Wiltrud verheiratet war.

   Sarina griff sich ans Herz. Es hämmerte gegen ihre Brust, als wollte es zerspringen. "Was meinst du, hat Matthias mich erkannt?"

   Barbara schüttelte den Kopf. "Bestimmt nicht. Er hat doch nicht einmal aufgesehen. - Und jetzt?"

   Sarina schloss die Augen. "Bist du sicher, dass du mitkommen willst?", antwortete sie mit einer Gegenfrage.

   "Ja, sicher. Wir tun alles ganz genau so wie besprochen."

   "Dann los!"

   Entschlossen zog Sarina den Schleier der Haube um ihr Kinn und trat auf die Gasse. Links von ihnen lag der Latron, dort saß einst der Pfalzgraf von Bayern zu Gericht, rechts drängten sich schmutzige kleine Wohnhäuser aneinander, in denen sich nichts Gutes tummelte. Der Hundsschinder, der Henker und Wasenmeister wohnten hier, Diebe, Geächtete und sonstiges Gesocks trieb sich herum.

   An einem Brunnen schöpfte ein altes Weib Wasser, eine tote Katze lag neben ihr im Dreck, eine Krähe machte sich über den Kadaver her.

   Nicht weit vom Brunnen würfelten drei Männer auf einem Brett. Einer von ihnen trug eine Pilgermuschel, die an einem Lederriemen um seinen Hals hing. Als sie die beiden fremden Frauen wahrnahmen, schickten sie ihnen geile Blicke nach, lachten und machten zweideutige Bemerkungen.

   Von der Latrongasse, die geradewegs in die Stadt zurückführte, bog ein Mann ins Henkergässl ein. An einem Riemen, den er sich um den Brustkorb gelegt hatte, zog er einen Handkarren hinter sich her. Er war von einem eklig süßlichen Gestank umgeben, der einem schier den Atem raubte. Aus den Augenwinkeln sah Sarina, dass ein paar tote, von Gasen aufgedunsene Hunde auf der Karre lagen.

   "Es ist der Hundsschinder!" Sie sagte es, und im selben Moment sah er auf und sie an.

   Schnell wandten die Mädchen ihm den Rücken zu. Dem Hundsschinder in die Augen zu sehen war das allergrößte Unglück von allen, die es gab! Ein böses Omen, schlimmer noch, als das, dem Henker zu begegnen.

   Erst als das Rattern der Wagenräder kaum noch zu hören war, wagten sie es, weiterzugehen.

   Irgendwo schlug eine Tür zu, ein Kind kreischte, eine Frau schrie. Und dann sahen sie es plötzlich - vor einem kleinen, schmutziggelben Haus mit windschiefen Fensterläden stand ein Hackstock, dahinein ein Beil geschlagen war. Es galt als Zeichen, dass hier der Henker wohnte!

   Die beiden Mädchen, tauschten Blicke.

   "Willst du es wirklich tun?"

   "Ja", sagte Sarine enschlossen. "Ja, jetzt sind wir schon hier!"

 

 

Die Närrin des Königs

Das Buch:

Vor ihrer spitzen Zunge und ihren derben Späßen bleibt keiner verschont, und so wundert es nicht, dass Mathurine, die Närrin des Königs, sich immer wieder Feinde macht. Als der junge Nicolas d'Amerval an den Hof kommt, verliebt sie sich in ihn - doch solche Gefühle sind das Letzte, was eine Närrin sich leisten darf! Zu allem bleibt eine Liebesnacht mit Nicolas nicht ohne Folgen. Heimlich bringt sie ein Mädchen zur Welt, wohlwissend, dass sie es nicht aufziehen kann. Mithilfe einer verschwiegenen Hebamme gelingt es ihr, das Kind bei einer adeligen Familie aufwachsen zu lassen. Doch die Heimlichkeit hat ihren Preis. Jahre später droht Mathurines Tochter mit ihrem eigenen Vater verheiratet zu werden.

Die Hofnärrin Mathurine lebte im 16. Jahrhundert und diente drei französischen Königen - Heinrich III., Heinrich IV. und Ludwig XIII. Mehr als 30 Jahre trieb sie als Fou en titre ihre Späße, sang, tanzte und spielte für den König und seine Gäste.

Sie war nicht nur eine schillernde Persönlichkeit, sie kann auch als Erfinderin der Yellowpress bezeichnet werden. Auf dem Pont Neuf verkaufte sie eine 'Hofklatschzeitung' und brachte dadurch ein wenig vom Glanz des Adels zu den kleinen Leuten.

 

Leseprobe:

   Dunkelgrau wölbte sich der Himmel über die Stadt, ein Stück flussaufwärts jedoch schien er zu brennen. In grellem Rot, von Gelb durchzogen, glühte er wie Feuer. Ein Schwarm Krähen durchkreuzte das Bild, das Krächzen der Vögel vermischte sich mit den Geräuschen des Flusses, der sich nachtschwarz unter den Pfeilern des Pont Neuf hindurchzwängte.

   Mathurine besah sich das schaurig schöne Schauspiel am Himmel und presste dabei die bedruckten Blätter, die sie im Arm hielt, an ihre Brust. Nach einer Weile beugte sie sich über das steinerne Brückengeländer und blickte hinunter ins Wasser. Erst als eine Kutsche hinter ihr vorbeifuhr, richtete sie sich wieder auf, wandte sich um und fing an, ihr Druckwerk zu verkaufen.

   "Der neueste Hofklatsch! Greift zu Leute, kostet nur sechs Deniers und den Furz einer Fliege! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?"

   Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand kam auf Mathurine zu und hielt ihr einen Sol hin. Die Närrin zog ein Blatt aus dem Packen, reichte es der Frau, nahm das Geld entgegen und gab ihr sechs Deniers heraus. Dann riss sie den rechten Arm hoch, als würde sie eine Fahne schwingen und brüllte wieder los.

   "Der neueste Hofklatsch! Greift zu, Leute, kostet nur sechs Deniers! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?"

   Das Mädchen hatte sich hinter der Mutter versteckt und hielt sich an ihrem Rockzipfel fest. Mit nur einem Auge lugte es hervor, starrte die große, derbe Frau an, die in ihrem seltsamen Kostüm mitten auf der Brücke stand und laut herumschrie.

   "Wer ist sie, Mama?", fragte es. "Sie sieht so komisch aus."

   Mathurine hatte es gehört. Sie griff nach ihrer Marotte, die an einer Kordel am Gürtel hing, und ließ die Schellen klingeln. "Was, du kennst mich nicht? Ich bin's doch, die Närrin des Königs!"

   Die Kleine schob den Daumen in den Mund. "Eine Närrin? Was ist eine Närrin?"

   "Eine Närrin ist ein Kind obwohl sie erwachsen ist, sagt die Wahrheit obwohl sie lügt, lügt, obwohl sie die Wahrheit sagt und will niemandem gefallen, auch wenn sie den ganzen Tag nichts Anderes tut, als herumzutanzen und Unfug zu treiben."

   "Bringst du die Leute zum Lachen?"

   Mathurine zuckte die Schultern. "Die einen lachen, die anderen weinen oder werden wütend und wünschen mir die Pest an den Hals."

   "Die Pest?"

   "Die Pest und noch viel mehr!" Die Närrin klatschte in die Hände und hielt plötzlich eine Münze zwischen den Fingern. "Was siehst du hier?"

   "Es ist ...", das Kind sah fragend die Mutter an, dann wieder zu Mathurine, " ... es ist eine Münze, das sieht doch jeder."

   "Bist du sicher? Siehst du wirklich eine Münze?"

   Das Kind nickte und traute sich endlich hinter dem Rockzipfel der Mutter hervor.

   Da riss Mathurine plötzlich die Hand hoch und rief. "Wo? Wo siehst du hier eine Münze? Ich sehe keine."

   "Aber da war eine Münze", sagte das Kind. "Du hast sie vielleicht in der anderen Hand."

   Mathurine streckte der Kleinen beide Hände entgegen. "Unsinn, hier ist keine Münze. Dafür ein Frosch - oder nein, warte, es ist ein grünes Tuch!" Sie winkte damit. Dann lachte sie. "Siehst du, jetzt hast du Tränen in den Augen und schaust mich an, wie ein Fass saurer Gurken, bloß weil du glaubtest, eine Münze gesehen zu haben, obwohl gar keine Münze da war."

   "Sie lügt", sagte das Kind zur Mutter, "sie hatte eine Münze zwischen den Fingern!"

   Die Mutter zuckte die Schultern. "Vielleicht, aber vielleicht war es auch nur Illusion. Man kann ihr nichts glauben, sie ist eben eine Närrin."

   "Sie ist hässlich, und ich kann sie nicht leiden", sagte das Kind. Es drehte sich um und wollte gehen, da klirrte etwas unter seinen Füßen. "Da ist sie ja, die Münze!" Das Kind bückte sich und hob sie auf, starrte das Geldstück eine Weile an, hielt es dann der Närrin hin.

   Mathurine lachte. "Das darfst du behalten. Du bekommst zwei Äpfel dafür oder einen Hefekringel. Aber glaube mir, viel mehr wert ist das, was du soeben gelernt hast."

   Das Kind sah zur Mutter. "Gelernt? Was habe ich denn gelernt?"

   "Wirst schon sehen", sagte die Mutter. "Hat was mit Lüge und Wahrheit zu tun, und dass man nicht alles glauben kann, selbst dann, wenn man meint, es mit eigenen Augen gesehen zu haben."

   "Darf ich die Münze wirklich behalten?"

   "Ja", sagte die Mutter, und Mathurine pries wieder ihre Zeitung an: "Der neueste Hofklatsch! Greift zu, Leute, kostet nur sechs Deniers und den Furz einer Fliege! Der neueste Hofklatsch - na, was ist Marie, willste oder willste nicht?"

   "Will nicht", flüsterte eine Stimme hinter ihr.

   Mathurine blieb das Geschrei im Halse stecken. Sie kannte dieses Flüstern. Es war das Flüstern einer Alten, die dem Wahnsinn nahe war. Das Flüstern hinter den Gräbern, wenn sie über den Friedhof ging, um das fremde Kind zu besuchen. Das Flüstern in den Baumwipfeln, wenn der Wind über das Land strich und das Flüstern ihres Gewissens, so sie überhaupt noch eines hatte.

   Langsam drehte sie sich um und starrte das alte, zahnlose Weib an, das, in ein schwarzes Tuch gehüllt, hinter ihr stand. Mehr als siebzig Jahre zählte Helène inzwischen. Ihr Gesicht, einst schön wie der taufrische Morgen, war von tiefen Furchen durchzogen, unter dem linken Auge hatte sie eine wulstige Narbe. Ein deutscher Söldner hatte sie ihr zugefügt, als sie ihm nicht geben wollte, was er von ihr verlangt hatte - ihren schönen, jungen Körper. Schwer atmend hatte er auf ihr gelegen, hatte an ihren Apfelbrüsten geleckt und sich dann an ihrem Mund festsaugen wollen. Doch da hatte sie wie eine wütende Hündin nach seiner Nase geschnappt, und sie hätte sie ihm abgebissen, hätte er ihr nicht mit seinem Messer diese Wunde zugefügt.

   Aber das war noch lange vor Mathurines Zeit, damals war sie noch nicht einmal geboren.

   "Will nicht", wiederholte Helène. "Das ist wohl der Weiber ärgste Qual, nicht zu wollen und doch zu müssen!" Die Alte beugte sich dichter an Mathurines Ohr und flüsterte dringlich auf sie ein: "Es geht um Jaqueline. Was ich dir jetzt sage, weiß ich von meiner Enkelin, die im Hause du Vivière als Köchin arbeitet - das Kind soll mit Nicolas d'Amerval verheiratet werden! In drei Tagen wird auf Château du Vivière Verlobung gefeiert. Abends wird man den Ehevertrag unterzeichnet, und schon am nächsten Morgen soll der Pfaffe seinen Segen geben!"

   "Du meinst ..." Mathurine wurde blass. "Jacqueline ... und Nicolas?"

   "Ja - ja, du hast richtig gehört!" Helène griff nach Mathurines Ärmel und zerrte daran. "Na los, was stehst du hier noch herum! Meine Enkelin wartet in deinem Haus auf dich. Verlier keine Zeit! Nicolas und das Kind, das darf nicht sein ... wir beide haben doch schon genug Schuld auf uns geladen!"

   Mathurine rannte los. Im Laufen ließ sie die Zeitungen fallen. Ein Windstoß fuhr zwischen die Blätter und wirbelte sie auf, trieb einige davon über den Brückenrand, ließ sie eine Weile über dem Fluss kreisen, bis sie auf dem Wasser landeten und von den Fluten mit fortgerissen wurden.

 

 

Die Seifensiederin

Das Buch:

Frankreich im 17. Jahrhundert. Manchen gilt die schöne Ambra als Hexe, weil sie betörende duftende Seifen zu sieden versteht. Als man sie festnehmen will, verhilft ihr der junge Mathieu zur Flucht nach Paris. Bald schon erhält sie einen besonderen Auftrag: Eine Marquise will den König verführen und bittet Ambra, eine besonders duftende Seife zu sieden.

Sinnlich und voller Dramatik - ein spannender Roman über die Liebe und die geheimen Spiele der Macht.

 

Leseprobe:

   Der Verschlag, in dem Mathieu schlief, lag über dem Pferdestall. Nachts raschelten im Heu die Mäuse, und er konnte La Blanche schnauben hören. Manchmal lag er wach, lauschte auf die Geräusche und dachte über sein Leben nach.

   Der Fassbinder war ein alter, verbitterter Mann. Sein Weib und auch seine Kinder hatte er schon längst zu Grabe getragen, und so scherte er sich um nichts und niemanden mehr. Manchmal schlug er Mathieu, aber es war nie so schlimm wie bei seinem Onkel, und am folgenden Tag bekam er dann eine Brotsuppe zusätzlich.

   Wenn er mit seinem Wagen durch die Stadt fuhr, sah Mathieu bei den Armen Mensch und Vieh verrecken, und bei den Reichen bogen sich die Tische unter der Last des Überflusses. War das gerecht? Niemand fragte danach.

   Abends jedoch, wenn er mit Ambra und Marthe zusammensaß, der Hund zu ihren Füßen lag und Ambra aus einem der beiden Bücher vorlas oder die Lieder ihrer Mutter sang, dann blieb das Elend vor der Tür, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Sein Herz fühlte sich dabei an, als wäre es plötzlich doppelt so groß und hätte keinen Platz mehr in seiner Brust.

   Doch da war noch ein anderes Gefühl. Wenn er Ambra und Marthe so vertraut miteinander umgehen sah, dann spürte er Eifersucht. Sie waren sich auf eine Weise nahe, die ihm fremd blieb. Wenn sie miteinander lachten und tuschelten, fühlte er sich ausgeschlossen. Er wusste, es ging nicht gegen ihn, aber er hatte keinen Zugang zu dem, was sie dachten und was ihre Seelen verband.

   Wenn Ambra aus dem Buch las, hing sein Blick an ihren Lippen. Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, war wie eine Offenbarung für ihn. Nicht weil sie las, was sie las - sie hätte auch über die Pest lesen können. Doch was war das für ein Zauber, wenn die Worte, die in das Buch geschrieben waren, über ihre Augen in sie eindrangen, hineinglitten in ihren Körper, ihn ausfüllten, von innen liebkosten, sich wieder einen Weg hinauf suchten, auf ihrer Zunge aufblühten und schließlich aus ihrem Mund an sein Ohr perlten.

   Manchmal wünschte Mathieu, er könnte das Lesen ebenfalls lernen. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn die Worte aus dem Buch auch durch seine Augen in sein Innerstes drängen, ihn ausfüllten, etwas von ihm erspürten und mitnähmen, bevor sie ihren Weg aus seinem Mund an Ambras Ohr fänden. So könnte er ihr endlich ganz nahe sein.

 

 

Hahnemanns Frau

Das Buch:

Durch eine rätselhafte Krankheit gerät Mélanie, eine junge, umschwärmte Pariser Malerin, in eine tiefe Krise. Sie ist überzeugt, dass ihr allein Dr. Samuel Hahnemann helfen kann, der Begründer der Homöopathie, der im fernen Köthen praktiziert. Als Mann verkleidet macht sie sich auf den gefährlichen Weg. Hahnemanns Töchter begegnen ihr überaus feindselig - besonders, als sie bemerken, dass ihr Vater sich in die viel jüngere elegante Künstlerin verliebt und sie sogar heiraten will.

Ein spannender, auf historischen Begebenheiten basierender Roman über eine Frau, die gegen alle Widerstände für ihren Mann und dessen Lehre kämpft.

 

Leseprobe:

   Zwanzig Minuten später hielt der Kutscher vor der Poststation. Er hatte sein Signal auf dem Horn gespielt, jetzt rief er "Lagny!" vom Kutschbock herunter. "Sie können sich hier die Beine vertreten und sich im Gasthaus erfrischen!"

   Delacroix zog eine Uhr aus seiner Westentasche, warf einen Blick darauf. "Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten, Madame", sagte er, ohne seine Frau anzusehen. Er stieg aus, sie kletterte ihm nach. Er half ihr nicht, obwohl ihre Röcke sie behinderten.

   "Warten Sie, Madame!" Mélanie sprang aus der Kutsche und reichte ihr die Hand.

   "Danke." Der Hauch eines Lächelns zeigte sich auf dem kränklichen Gesicht der Frau.

   Während Sabine Delacroix ins Gasthaus ging, sah Mélanie sich nach Doyen um. Zuerst entdeckte sie den Braunen, er wurde von einem Knecht versorgt. Dann sah sie Dr. Doyen ein Stück abseits an einem Baum lehnen. Er trank aus einem Krug und sah zu ihr herüber.

   Mélanie ging auf ihn zu, schob dabei die Daumen in die kleinen Taschen ihrer Hose. Sie hatte diesen und noch einen anderen Anzug vom Schneider ihres Bruders fertigen lassen. Er war nach der neuesten Mode entworfen. Der dunkelgrüne Gehrock leicht tailliert und mit langem Schoß, darunter zwei Westen in hellem Gelb, die Handschuhe etwa in derselben Farbe, Kragen und Halsbinde waren weiß, die Hosen, in hellem grau, waren wie zur Zeit üblich etwas enger geschnitten. Dazu ein schwarzer Zylinder und schwarze Schuhe aus feinstem Leder. Und noch etwas trug Mélanie bei sich. Etwas, das niemand sehen konnte, das ihr aber eine gewisse Sicherheit verlieh - ein Messer. Sie trug es so unter dem Gehrock verborgen, dass sie schnell und unauffällig danach greifen konnte.

   Dr. Piere Doyen hatte sie abfällig gemustert. Als sie jetzt vor ihm stehen blieb, sagte er: "Ich finde es abstoßend, ja lächerlich, dass Sie sich wie ein Mann kleiden!"

   "Ich hatte Sie nicht um Ihr Urteil gebeten, Monsieur."

   "Nein, das hatten Sie nicht. Trotzdem."

   "Darf ich wissen, weshalb Sie mir gefolgt sind?"

   "Um Sie vor einem großen Fehler zu bewahren. Ich habe von Ihrer Haushälterin erfahren, dass sie nach Deutschland zu diesem Dr. Hahnemann unterwegs sind. Ich bin entsetzt, Madame! Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, dieser... dieser Scharlatan könnte Ihnen ernsthaft helfen?"

   "Nun, ich habe seine Bücher gelesen. Sein Organon, und ebenso Die chronischen Krankheiten. Seien Sie versichert, er ist alles andere als ein Scharlatan."

   "Papier ist geduldig." Doyen hatte ein abfälliges Lächeln auf den Lippen.

   "Aber ich nicht, Monsieur. Wenn Sie wirklich nur hier sind, um mich zum Umkehren zu bewegen - vergessen Sie es. Ich bin fest entschlossen."

   "Aber Madame!" Er packte sie an beiden Armen, so als wolle er sie durchschütteln.

   "Lassen Sie mich los! Und nennen Sie mich gefälligst nicht Madame! Ich reise als Monsieur Gohier!"

   "Ah, Sie bedienen sich also des Namen Ihres Freundes." Er betonte das abfällig. Sein Grinsen brachte Mélanie nur noch mehr in Rage. "Hätte Ihnen d'Hervilly nicht besser zu Gesicht gestanden?"

   Sie antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich um, wollte gehen. Da griff er nach ihrer Hand, zog sie zu sich zurück. "Ich bitte Sie, Madame, seien Sie doch vernünftig. Sie können so nicht reisen! Und dann auch noch in einer Postkutsche! Kommen Sie mit mir nach Paris zurück. Als Ihr Arzt rate ich Ihnen zu einer Behandlung mit Blutegeln. Das hat bei Nervenstörungen noch immer gute Wirkung gezeigt. Und als Mann - nun, als Mann werde ich über Ihren ablehnenden Brief hinwegsehen und meine Bitte wiederholen: Heiraten Sie mich! Und ich bin sicher, Madame, die Schmerzen im Unterbauch werden Sie nicht länger quälen!"

   Mélanie starrte ihn an. Sein zweideutiges Lächeln und der Gedanke daran, was dahinter steckte ... diese Vorstellung, mit ihm in einem Bett liegen und die Nähe seines Körpers ertragen zu müssen ... es schnürte ihr die Kehle zu.

   "Nein, ganz gewiss nicht." Es kostete sie Mühe, sich zu beherrschen. "Ich hatte Ihnen geschrieben und mich in aller Freundlichkeit für ihren Antrag bedankt. Ich habe Ihnen auch erklärt, weshalb ich ihn ablehnen muss. Dass Sie meine Entscheidung nicht akzeptieren wollen und mich behandeln wie ein unmündiges Kind, bestärkt mich nur noch mehr in meinem Entschluss. Ich habe nicht vor zu heiraten und mich einer fremden Meinung unterzuordnen. Ich werde meine Freiheit nicht für ein vages Vergnügen im Bett eines Mannes hingeben. Ich will das nicht, Monsieur, und Sie sind der Letzte, der mich umzustimmen vermag." Das klang scharf. Mélanie hätte es vorgezogen, wenn er ihr und sich selbst diese Unhöflichkeit erspart hätte. Aber es schien, als brauchte er ein deutliches Wort, um endlich zu verstehen, dass sie ihn weder heiraten wollte, noch sich seinen zweifelhaften ärztlichen Künsten unterwerfen.

   "Wie Sie meinen." Er ließ sie los. Seine Augen verengten sich. Sein Körper richtete sich zu ganzer Größe auf.

   Zugegeben, dieser Mann war der Natur gut gelungen und andere Frauen mochten ihn anziehend finden. Aber Mélanie fröstelte es, wenn sie ihn ansah. Die Kälte in seinen dunklen, bohrenden Augen, seine Art sie beherrschen zu wollen, wirkten geradezu abschreckend auf sie.

   Sie sahen sich an. Lange und ohne ein Wort zu sprechen. Es war ein stiller  Kampf, den Mélanie gewann. Dr. Piere Doyen wandte sich als erster ab und ging. Eine weitere Demütigung, die er ihr nicht verzeihen würde.